Projekt TISCHGEBET

„Unser tägliches Brot gib´ uns heute“ – dieses Fragment aus dem uralten und vielen Menschen bekannten Vater unser war Basis für das Jahresprojekt von Jürgen Drewer. Vom 1.1.1997 bis zum 31.12.1997 entwarf und führte der Künstler täglich eine Arbeit aus, visualisierte an jedem Tag eine neue Bitte, wobei er den Begriff „Brot“ durch einen anderen oder eine Redewendung ersetzte.
Die Arbeiten basieren auf einer abstrakten Schale, deren Kontur in einer Grundform aus Papier und Multiplex vorliegt und die für jede der 365 Arbeiten verwendet wurde. Je nach Thema ändert sich die Füllung der Schale, ihr Hintergrund, ihr Material sowie die Technik der Bearbeitung. Immer tauchen in den 365 Arbeiten, die trotz der gleichbleibenden Grundform eine erstaunliche Vielfalt aufweisen, wertlose Materialien, alltägliche Dinge, Fundstücke auf: Papiertüten, Stoff, Styropor, Holz, Stein, Resopal, Glas, Kunststofffolie werden verwendet, Zeitungsseiten, Dämmmaterial, Photos, Teile einer Landkarte tauchen auf, Fett, Fliegendreck und Flaschenverschlüsse werden mitverarbeitet.
Drewer malt, zeichnet, rädelt, tackert und collagiert auf Schalenhintergrund und Schale. Die Visualisierung seiner Bitten ist so direkt wie ihr Inhalt.
Jürgen Drewer führt in seinen Arbeiten eine schier unerschöpfliche Palette von Gedanken, Gefühlen, Wünschen, Ängsten, Hoffnungen vor, die in den „Tischgebeten“ plastische Form annehmen. Drewers tägliche Bitten führen von Zuversicht, Einsicht und Gemütlichkeit über Heimat, Durchschnittlichkeit, Krokodilstränen und Edelmut zu Brandstiftung, Mogelpackung, Eitelkeit, Höhen und Tiefen, bohrende Fragen und Zweifel. Die Bitten haben ernsten, ironischen, bedrückenden, sarkastischen, humorvollen Charakter, sind oft auch rätselhaft und greifen damit die ganze Skala menschlicher Stimmungen auf.

Jürgen Drewers Tischgebete stimmen nachdenklich. Welche Wünsche sind Menschen wichtig? Sind es die vermeintlich positiven, die heilen Dinge, die allein wünschens- und erstrebenswert sind?
Um ein „sonniges Gemüt“ zu bitten leuchtet ein, aber: Was bedeutet und bewirkt der Wunsch nach einer „Schwachstelle“, was der nach der „Notlösung“? Da drängt sich die Überlegung auf, ob es nicht oft die dunklen, negativen Erfahrungen und Erlebnisse sind, die den Menschen in seiner Entwicklung ein Stück vorantreiben, ihn bilden und verändern?

Er stellt das Normale in Frage. „Unser tägliches Brot gib´ uns heute“ – um nicht mehr und nicht weniger geht es in der Ausgangsbitte. Dies ist die Bitte um die Erhaltung der Existenz.

Jeder weitere Wunsch ist Luxus.?

Sigrid Blomen-Radermacher

Projekt Tischgebet

Abmessungen | 25 x 20 cm

mixed media

Text | Sigrid Blomen-Radermacher