Projekt TAGEWERK
Rede zur Ausstellungseröffnung in der Galerie 404
„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehen.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.“
Mit diesen Worten beginnt Rainer Maria Rilke eines seiner Gedichte, in dem er sich fragt, wer er ist und wer er sein wird und wie sich sein Leben suchend und versuchend weiter entwickelt.
Leben und Entwicklung sind keine in sich abgeschlossenen Kapitel, die nacheinander ad acta gelegt werden. Leben und Entwicklung sind aufeinander aufbauende Wachstumsprozesse, deren einzelne Schritte oftmals nichts mit einander zu tun zu haben scheinen, aber dennoch – von Außen und mit einigem Abstand betrachtet – wie ein Ring aus dem vorigen erwachsend, unlösbar mit einander verwoben sind, voneinander zehren und ohne einander nicht sein können.
„Tagewerke“ nennt Jürgen Drewer seine 365 Arbeiten im immer gleichen Format, die zwischen dem 1. Januar 1998 und dem 31. Dezember 1998 entstanden. Von Januar bis Dezember 1997 war bereits eine solche Reihe entstanden, in der sich Jürgen Drewer zum Ziel gesetzt hatte, ein Jahr lang täglich eine formal festgelegte Arbeit unter dem Thema „Tischgebete“ zu erstellen. Wenn auch der Titel der letzten Arbeit der Reihe am Silvestertag 1997 „Schluss – Aus – Ende“ lautete, bewog ihn doch diese erste Erfahrung mit einer selbst auferlegten Disziplin, die nicht nur Zwang, sondern auch eine innere Zufriedenheit, Klarheit und Übersicht über gelebtes Leben, Arbeit und Entwicklung verschafft, zu einem weiteren Jahr täglicher „Pflichterfüllung“.
Im Süden Deutschlands entspricht ein Tagewerk der Größe eines Ackers, den ein Mann an einem Tag bestellen kann. Die Parallele zum Künstler ist offenkundig: er bearbeitet täglich seinen Acker, der in Drewers Fall ein Stück Pappe, Holz, Stoff oder jedwedes Verpackungsmaterial sein kann.
Ein „Tagewerk“ ist nicht nur ein Flächenmaß, mit dem Drewer an die älteste Form des Vermessens erinnert, es ist auch ein Zeitmaß.
Alle Menschen haben den Wunsch, Zeit, diese so abstrakte, relative und wenig greifbare Größe, die ihr Leben bestimmt und begrenzt, zu erfassen und ihrer Herr zu werden, indem sie sie messen: in gestern, heute und morgen, in Sekunden, Minuten und Stunden einteilen.
Wenn ein Künstler ein Jahr lang täglich ein Arbeit erstellt, die immer das gleiche Format besitzt, und wenn er diese nebeneinander aufreiht, wird Zeit, diese so abstrakte, relative und wenig greifbare Größe, sowohl für den Künstler als auch für den Betrachter in Ansätzen spürbar, erlebbar, nachvollziehbar.Wie ein Fries können wir die Tagewerke abschreiten, Tag für Tag, Gedanke für Gedanke, Idee für Idee, Entwurf für Entwurf, Acker für Acker, Entwicklung und Rückschritt, Höhen und Tiefen. 207 Tagewerke, dazwischen weiße Flächen als Platzhalter für diejenigen Arbeiten, die in die Leben anderer eingezogen sind. Können den Künstler und die Entwicklung seiner künstlerischen Ideen von Januar bis Dezember begleiten, können vergleichen, wieder entdecken, Bezüge herstellen, Veränderungen entdecken,
den roten Faden aufnehmen. Können eine Entwicklung verfolgen, die vorwärts und rückwärts, kreuz und quer verläuft und dabei geradlinig bleibt. Können ein Jahreswerk miterleben, in dem die Äcker sanft und grob, weich und rau, schwarz und weiß sein können, in dem die Äcker grau und farbig, dynamisch und verhalten, konstruktiv und destruktiv, leicht und schwer waren.
Jürgen Drewer nennt seine Tagewerke sein Laboratorium. Bei dem Wort Laboratorium denkt man vielleicht eher an eine sterile Arbeitsstätte für naturwissenschaftliche, technische oder medizinische Arbeiten, für Untersuchungen, für Versuche und Ähnliches. Im übertragenen, aber viel sinnlicheren Sinne trifft genau dies auf die Tagewerke zu: hier experimentiert Drewer mit den unterschiedlichsten Materialien, die in den Augen vieler Kunstgewohnter vielleicht eher ungewöhnlich erscheinen wie Plastiktüten, Verpackungspappen, Schmirgelpapier, Leder, Stoff, Pappe, Papier, Holz, Schiefer, um nur einen Teil zu benennen. Drewer verwendet Materialien, die aus anderen Zusammenhängen stammen, die ihre eigene Zeit- und Lebens-Geschichte mitbringen und nun in eine neue eingebettet werden. Auch hierdurch wird Zeit spürbar, wenn auch auf andere Weise: Der Gedanke der verstrichenen Zeit wird bewusst gemacht, wenn Drewer das Vergangene in das Gegenwärtige einbezieht. Alles ist in allem enthalten, nichts geht verloren, Risse werden mit einem Tacker zusammengefügt, Ausgeschnittenes in einen anderen Acker eingefügt, alte Ackerfurchen neu und anders gezogen. Alles besitzt seinen eigenen, unschätzbaren Wert, im Miteinander behält jedes Element seinen eigenen, unschätzbaren Wert. Die Experimente in Drewers Laboratorium sind Stationen auf einem Weg, der zu einem – noch unbekannten – Ziel führt.
In seinem Laboratorium konjugiert er das Vokabular seiner Formensprache, zu der die Linien als wichtiges Charakteristikum gehören. Es sind Linien, die nicht zwingend und wie es die Tradition verlangen mag, einen Gegenstand konturieren oder eine Fläche schraffierend symbolisieren. Es sind Linien, die, wenn überhaupt, eher zufällig eine erkennbare Form bilden; Linien, die aus Farbe, Kreide oder dem Schnittmusterrad gebildet werden oder auch durch die Schnitte und Spuren im jeweils verwendeten Material oder durch die Kanten der aneinander stoßenden Materialien, die Jürgen Drewer mit Vorliebe zusammen tackert, eine Technik, die schließlich auch eine gewollte neue Linie bildet und zu den übrigen hinzugefügt wird.
Die jeweiligen 365 Tagewerke, die 1998 und 2009 tagtäglich entstanden, und bis heute immer wieder sporadisch entstehen, sind jeweils nur ein Teil des Ackers, den Jürgen Drewer bearbeitet hat. In ihnen spiegelt sich seine grundsätzliche Idee vom Bilder-Machen, die die Bilderwelt der großformatigen architekturbezogenen Arbeiten auf Holz, Beton oder Glas prägen.
Sigrid Blomen-Radermacher